Dialogpredigt Pfingstsonntag, 31. Mai 2020

Dialogpredigt am Pfingst-Sonntag 31.Mai 2020

Pfarrerin Dr. Birgit Rommel, Pfarrer Karl-Eugen Fischer

Wochenspruch: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.“ Sach 6,4

Predigttext Apostelgeschichte 2, 1-13

1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.
2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen,
4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel.
6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer?
8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?
9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia,
10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen,
11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.
12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.

Predigt

Wenn alles plötzlich Sinn macht … Verstehen wir uns?

BR:
Liebe Gemeinde,
„Das macht doch alles keinen Sinn!“ Oskar schaut unzufrieden, motzig, vielleicht auch verzweifelt; sein Tonfall ist aggressiv. „Das macht doch alles keinen Sinn!“ – das höre ich öfter von meinen Schülerinnen und Schülern, die mit einer Aufgabe oder einer Note nicht einverstanden waren; und zur Zeit höre ichs immer öfter von Menschen, denen die Corona-Kontaktbeschränkungen nicht einleuchten. Dass etwas keinen Sinn macht, das ist dann ein starkes Werturteil, genauer: ein Unwerturteil: Was keinen Sinn macht, muss weg!
Ich halte das für sehr gefährlich.
(Sicher: Ich verstehe, warum viele Menschen durch die Corona-Pandemie unter Druck geraten. Der Sprung eines Virus vom Tier auf den Menschen, die Zoonose, gab es zwar schon immer, aber sie nimmt an Häufigkeit zu – und durch die Globalisierung werden Zoonosen gefährlicher. Dazu kommt, dass wir letztlich kein Wissen um die Ursachen haben, aber die Folgen der Pandemie uns unmittelbar bedrohen – nicht nur mittelbar, wie es die ökologische Krise tut: Wir erleben coronabedingte Absagen – Projekte, die uns am Herzen liegen, werden abgesagt, können nicht nachgeholt werden, müssen betrauert werden -, coronabedingte Kürzungen – Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten werden eingeschränkt oder ganz genommen -, und coronabedingte Zusatz-Aufgaben – Erwerbsarbeit plus Küchenschule plus Wohnzimmerkita, v.a. für die Frauen: Stress pur. Da steigt der psychische Druck, immer alles trotzdem richtig machen zu müssen.

Das macht dann manche zu widerspenstigen Untertanen, die sich als neue, wahre Zivilgesellschaft präsentieren wollen („Aufstandsfolklore“) und schimpfen: „Das macht doch alles keinen Sinn!“.
Bei allem Verständnis, dass Menschen durch die Corona-Pandemie unter Druck geraten: Bestimmte Formen der Sinngebung sind gefährlich. )

Wer jede Irritation durch Unverständliches, jeden Ärger über Unsinniges sofort in ein Gesamtkonzept einbetten kann, diejenigen, für die alles Sinn macht, die immer einen tieferen Sinn erkennen! Das ist doch gerade das Kennzeichen des Fundamentalismus, dass er keine offenen Fragen erträgt – keine Fragen offen lassen muss. Das Versprechen fundamentalistischer Religion lautet doch: „Wir haben die Antwort! Auf alles gibt es eine Antwort! Wer uns folgt, für den macht alles auf einmal Sinn!“
Nein, danke – vieles macht keinen Sinn, und erwachsen glauben, auf den Gott der Bibel vertrauen, heißt für mich: Ich muss und kann Sinnlosigkeit aushalten. „Das macht doch alles keinen Sinn!“ – nicht schön. Aber wahr. Ich stehe für die Skepsis gegen zu viel Sinngebung.
Und du?

KEF:
Corona ist ein Virus. Ein Erreger: Allgemeine Ratlosigkeit, Unverständnis, Unsicherheit, Angst. Es hat etwas von einem schlechten Science Fiction Film. Nur, dass es eben das nicht ist, sondern konkrete Realität. Manche verschließen die Augen davor – wollen es nicht wahrhaben, vermuten einen riesengroßen Schwindel dahinter. Eine Verschwörung. Das macht wirklich keinen Sinn.
Aber dennoch frage ich mich, was sagt mir dieses Virus?
Damit beginne ich schon, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Ich brauche das. Ich frage mich: Hat es dieses Virus gebraucht, damit uns die Augen geöffnet werden? Oder: was wäre, wenn es Corona nicht gegeben hätte?
Wir würden weiterhin nichts gegen den Klimawandel tun. Wir würden weiterhin die Pflegeberufe abwerten. Wir würden das Gesundheitssystem weiter kaputt wirtschaften. Wir würden uns selbst und diese Erde weiter ausbeuten bis wir endgültig ausgebrannt sind. Wir würden weiterhin auf KI und nicht auf menschliche Vernunft setzen. Wir würden weiterhin das Leben dem ungebremsten Wachstum unterordnen. Vor Corona war die Welt alles andere als heil. Das zeigt die Pandemie ganz schonungslos.
Ich kann mich dem nicht entziehen, indem ich sage, das alles macht keinen Sinn. Sinn ist immer Zusammenhang. Das heißt, ich muss mich irgendwie dazu verhalten. Ich kann es nicht ignorieren. Die Auswirkungen von Corona sind vielfältig. Aber ich finde, Eines liegt allem zugrunde: Corona legt den Finger auf die Wunden unserer „Zivilisation“. Es führt uns unsere Irrtümer vor Augen: „Krone der Schöpfung“ zu sein. Wir sind weit davon entfernt. Ein kleines Virus legt unsere Welt lahm. Es zeigt mir: Wenn wir weitermachen wie bisher, können wir sie nur zerstören. Es zeigt mir, was wir verloren haben: Die Ehrfurcht vor dem Leben.
Worte helfen nicht. Einsicht hilft nicht. Guter Wille hilft nicht. Dass Corona überhaupt so zerstörerisch wirkt, hat mit unserem Lebensstil und unserem pharaonischen Starrsinn zu tun. Ich finde Corona ist die Konkretisierung einer ökologischen Krise und insofern hat es für mich schon einen Sinn. Es fordert mich heraus, mein Leben zu überdenken. aber nicht nur mich. Es fordert unsere Gesellschaft heraus, neu zu fragen, worauf kommt es im Leben eigentlich an. Es fordert uns alle heraus, bewusster, langsamer, rücksichtsvoller, achtsamer, genügsamer zu leben. Es ist traurig, aber offensichtlich gilt, dass nur Katastrophen Einsicht und Veränderung bringen.
Die katastrophalen Folgen: Die Toten, die in ihrer Existenz bedrohten Menschen will ich nicht mit irgendeinem Sinn überkleistern. Aber gerade die Toten fordern von uns: Lernt aus der Katastrophe. wiederholt nicht die Fehler, die dazu geführt haben! Corona macht keinen Sinn. Corona ist ein Erreger.

BR:
Dass du Sinn darin findest, wenn Widerfahrnisse mit deinem Leben sinnvoll verknüpfen kannst, das leuchtet mir ein. Das geht mir auch so. Ich überlege dann: „Wenn das jetzt so ist – wie gehe ich damit um? Was könnte aus diesem Schlechten Gutes entstehen? Welches Gute ist im Schlechten versteckt? Wozu nutze ich diese Zeit, diese Krankheit, diese Enttäuschung?“
Wogegen ich mich wehre, das ist eine andere Art von Sinn: Ich meine die Verschwörungsmythen.

(Wir verstehen ja vieles im Alltag nicht und vertrauen auf unsere Experten – zurecht. Erst in Zeiten der Krise hinterfragen wir diese Abhängigkeit von Fachleuten – auf einmal kommen Begriffe wie „Expertokratie“ und „Virologendiktatur“ auf. Unser Unwissen, die Ungewissheit angesichts komplexer Zusammenhänge macht uns unzufrieden, motzig, vielleicht auch verzweifelt. Woher kommt dieses Virus? Warum trifft es uns jetzt? In welchem Zusammenhang steht Corona mit anderen Krisen? Dafür brauchen wir doch eine Antwort! So denken viele.)

Und weil diese großen Fragen nach Antworten schreien, und zwar am liebsten nach Antworten, deren Grundgedanke wir in einem Satz zusammenfassen können, schlägt die Stunde der Verschwörungsmythen. Wer ihnen anhängt, „für den macht plötzlich alles Sinn“. Sie sind ein religiöser Glaube, nur in negativer Form.

(Ein Beispiel für einen antisemitischen Verschwörungsmythos sind die „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Entstanden sind sie um das Jahr 1900 in Russland. Um die wankende zaristische Monarchie von innen zu stabilisieren, schluderte die russische Geheimpolizei Ochrana das Pamphlet zusammen. Das Pamphlet gibt vor, „Wortprotokoll“ eines geheimen zionistischen Rabbinertreffens in Basel wiederzugeben. Das zentrale Motiv der „Protokolle“, so Michael Blume, bestehe in der These, die Juden würden alle unter einer Decke stecken. Alle antimonarchischen, liberalen und wissenschaftlichen Strömungen ginge, so die Schrift, auf eine Verschwörung jüdischer Eliten zurück in der Absicht, die bestehenden Verhältnisse zu untergraben und die Macht an sich zu reißen. Baschar al-Assad ließ Ausgaben der Schrift im Volk verteilen. „Die arabischen Staaten sind durch die Verbreitung der „Protokolle“ bis heute vergiftet, sagt M. Blume.)

Was zeichnet Verschwörungsmythen aus?
Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass
komplexe Ereignisse einfach erklärt werden können REDUKTION
als Ergebnis zielgerichteter Handlungen, INTENTION
die sich bestimmten Personenkreisen zuordnen lassen, KONSPIRATION
denen es gelingt, ihre jeweiligen Einzelinteressen widerspruchsfrei zu koordinieren, die Auswirkungen ihrer Handlungen selbst in hochkomplexen Situationen voll abzuschätzen und dies alles über lange Zeit geheim zu halten. (Kai Funkschmitt, ezw 10/2014, 393)

(Am Beispiel der Protokolle der Weisen von Zion:
Die Juden stecken hinter allem. REDUKTION
Sie wollen die Weltherrschaft; darum. INTENTION
Dazu stecken sie alle unter einer Decke und treffen geheime Verabredungen. KONSPIRATION
Dass ein jüdische kinderreiche Familie aus dem Jemen ganz andere politische und ökonomische Interessen hat als ein schwuler Jude in New York – geschenkt.
Dass auch bei gute Planung und strategischem Geschick sich die Auswirkungen staatlicher Interventionen auf den Finanzmärkten nicht vollständig voraussagen lassen – ebenfalls geschenkt.
Dass auch Verschwörer bestechlich sind und immer einer gegen Geld Geheimnisse verrät – ebenfalls geschenkt.)

(Denn was macht Verschwörungstheorien/-mythen glaubhaft?
Bilder machen das Gesagte glaubhaft: „Ich habe das selbst gesehen, das muss stimmen“
Es werden bereits bekannte Fakten erwähnt: „Das habe ich schon woanders gehört, das muss stimmen.“
Die Tendenz passt ins Weltbild: „Das habe ich schon immer vermutet, denen traue ich alles zu.“)

Verschwörungsmythen bieten Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung. Sie bieten uns eine einheitliche Logik zur Welterklärung an: „Wir werden doch alle von … gesteuert“. Sie benennen Schuldige und bieten eine einfach geordnete Weltsicht („Wieder Mädchen von Flüchtlingen belästigt“). Indem sie ihren Anhängern „Geheimwissen“ zur Verfügung stellen, werten sie diese auf („Was viele nicht wissen, wir wissen es“, „Wir kennen die Wahrheit hinter …“). Persönliche Niederlagen werden durch externe Ursachen erklärbar („krank durch Mobilfunkantennen“). Und vor allem: Unverfügbare Ereignisse werden vermeintlich in den Bereich menschlicher Gestaltung hineingenommen („diese Virenmutation ist von Menschen gemacht“).

Kurz und gut: Verschwörungsmythen sind optimale Sinn-Spender – und gerade deshalb so gefährlich. Und wenn sie an unsere ureigensten Überzeugungen anknüpfen können, dann schenken wir ihnen besonders gern Glauben. Deshalb sind alle religiös gefärbten Sinndeutungen, die sich auf unseren „christlichen Glauben“ berufen, so gefährlich! Manchen Menschen würde ich gerne sagen: Gott steckt nicht hinter Corona! Ihr tut Gott unrecht! Was meinst du?

KEF:
In Biblischen Zeiten wäre die Pandemie als Strafe Gottes bezeichnet worden. Eine Welt, in der irgendetwas ohne göttlichen Willen geschieht war bis in die frühe Neuzeit undenkbar. Man hat damit akzeptiert, dass der Ratschlag Gottes vom Menschen nicht zu ergründen ist. Dennoch hat man Gott das Leid geklagt. Die Klage war die Auflehnung des Menschen gegen Gottes unergründlichen Willen. Der Protest dagegen, dass Gott sein Antlitz abwendet und damit dem Bösen freien Lauf lässt.
Luther sprach von der dem menschlichen Verstehen abgewandten Seite Gottes, dem so genannten „Deus absconditus“. Die Menschen können und sollen sich indessen nur an das halten, was ihnen von Gott offenbart ist: Gottes Gnade in Jesus Christus.
Heute erledigt sich das Problem damit, dass die Existenz Gottes abgelehnt wird. Das ist so einfach wie unbefriedigend.
Wer aber an Gott glaubt und sagt, Corona sei eine Strafe Gottes, macht es sich ebenfalls zu einfach. Es ist nicht nur pädagogisch katastrophal, sondern auch theologisch falsch. Wer so etwas behauptet, erhebt den Anspruch, Gottes Willen zu kennen. Was aber ist Gottes Wille? Die Bibel? Die 10 Gebote? Die Tora? Die Bergpredigt? Die katholischen Morallehre? Das Kirchenrecht? Das Naturrecht?…
Das Gottesbild dahinter zeigt Gott als Richter, der nach Gutsherrenart die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Dass das nicht funktioniert, zeigt die Bibel an vielen Stellen. Das beginnt schon mit der Fluterzählung: Gott bereut! Er hat einen Fehler gemacht! Strafe macht die Menschen nicht besser! Unglück und Katastrophen haben keinen pädagogischen Wert. Sie machen keinen Sinn. Die ganze Bibel ist ein Gespräch über die Frage, warum genau das nicht funktioniert. Es ist eine der zentralen Erkenntnisse der Bibel, dass die Welt so nicht aufgeht. Sie stellt fest: Der Gerechte leidet, während der Frevler triumphiert. Denk nur an Hiob, dem unverschuldet unendliches Leid widerfährt und der dennoch an Gott festhält. Und fragt zurecht: Wie verträgt sich das mit der Gerechtigkeit Gottes?
Eine Antwort, die wir schon im Ersten Testament finden, lautet: Gott geht mit. Gott ist nicht über das Unglück seines Volkes erhaben. Gott sitzt nicht oben im Himmel und hebt oder senkt den Daumen. Oder schaut weg. Nein, Gott geht mit: Ins Exil, in die Wüste, in den Tod. Gott solidarisiert sich mit den Leidenden, lässt sie nicht allein. Gott leidet mit.
Das hieße in unserer Situation: Corona ist nicht Gottes Strafe, sondern Gottes Schrei. Genau wie die Gewalt, das Unrecht und die Zerstörung der Schöpfung zum Himmel schreit. Gott ist bei den Opfern, den Leidenden.Gott ist bei den Kranken, den Sterbenden, den Hungernden, den Verratenen und Verlassenen. Gott ist selbst das Opfer.
Ich bin nicht von Gott gestraft oder verlassen, wenn ich krank bin. Im Gegenteil: Gott ist mir dort am nächsten, wo ich ihn am wenigsten vermute. Das Gefühl von Gott verlassen zu sein ist die erste wirkliche und intensivste Gotteserfahrung überhaupt.
Aber kann es dabei bleiben. Muss ich das so akzeptieren? Ändert das etwas an der Situation. Das Leiden ist ja kein Selbstzweck. Woher kommt die Hoffnung?

BR:
Natürlich denke ich, dass Gott im Spiel ist. Auch in meinem, in unserem Leben. Aber ich glaube nicht, dass er die eine Ursache von allem ist, was mir widerfährt. Ich glaube, dass Gott mich begleitet in allem, was mir widerfährt; dass er an meiner Seite ist und mitleidet, wenn ich krank werde, einen herben Rückschlag im Beruf erleide, ein Mensch viel zu jung stirbt.
Ich halte mich da an Jesus: In ihm war Gott selbst – auch als er am Kreuz ohnmächtig litt. Gott wurde Mensch, damit wir ihn an unserer Seite haben. Er war ohnmächtig, um unseretwillen.
Dieses Wagnis, das ihn das Leben kostete, führte ins Weite. Das feiern wir an Ostern mit Jesu Auferweckung. Daran zu glauben führt auch mich ins Weite: Ich traue Gott zu, dass er Veränderungen nicht erzwingt, wie ein Marionettenspieler eine Marionette führt, sondern dass er mich dazu verlockt – durch seinen Heiligen Geist.

KEF:
Der Glaube als Wagnis, das in die Weite führt. Der Gedanke gefällt mir. Denn damit sind wir bei der Ruach, der Geistkraft Gottes. Im Hebräischen hat Ruach – Geistkraft denselben Wort-Stamm wie Rechem- Gebärmutter . Die Ruach ist die Kraft, die aus der Enge in die Weite führt. Und genau das geschieht an Pfingsten.
Pfingsten motiviert die verängstigen Jünger*innen Jesu zum Wagnis des Weges in die Weite.
Sturmwind und Feuerzungen ergreifen sie und treiben sie aus der Enge ihres Hauses hinaus ins Freie, die Welt, wo Menschen aller Couleur Zeugen ihrer Exstase werden.
Manche fragen sich: Was soll das werden? Und andere denken: Die sind betrunken.
Die meisten aber lassen sich begeistern. Sie fühlen sich verstanden obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Sie sind berührt und ergriffen. Einfache Männer und Frauen zeigen sich als inspirierende Redner*innen. Alle finden sich als Gemeinschaft wieder. Milieuübergreifend.

Nein, hier ist nicht von den Hygiene-Demos die Rede – sondern von Pfingsten.

Aber die menschliche Begeisterung kann auch in einen kollektiven Rausch umschlagen: Denk nur an die Erregung im Berliner Sportpalast 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Goebbels) Gezielte Manipulation von erregten Massen gibt es immer wieder bei politischen oder musikalischen oder religiösen Großveranstaltungen.

Darum ist es gut, die belebende Geistkraft Jesu von der betäubenden Massenbegeisterung zu unterscheiden.

Pfingsten lehrt, die Geister zu unterscheiden.

Der Kirchenvater Augustin hat es vor langer Zeit so ausgedrückt:
„Wenn dir ein Licht aufgeht, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn in dir ein Feuer brennt, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn dir die Ohren brausen vor Glück, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn dein Gesicht hell wird, damit andere sehen;
Wenn dein Feuer andere wärmt;
Wenn deine Ohren brennen von der guten Nachricht, die andere froh macht;
Dann kannst du sagen: das ist der Heilige Geist.“

Die Antwort von Pfingsten auf Corona 2020 ist nicht: „Das macht doch keinen Sinn“, sondern „Wir verstehen uns!“.
Wir verstehen unsere Verwundbarkeit, Ohnmacht, aber auch unsere Verantwortung – und wir verstehen die der anderen.
Wir begreifen, wie abhängig wir voneinander und von der nichtmenschlichen Schöpfung sind – wir und die anderen.
Wir verständigen uns über unsere Sehnsucht nach Halt, Orientierung, Hoffnung, die Frage nach Gott, nach Sinn – und hören auch die Antworten der anderen.
Wir überlegen, was Gottes Menschwerdung in Jesus Christus, Gottes Mitleiden in und mit seiner Schöpfung für uns bedeuten könnte: Ein Ruf zur gesamtgesellschaftlichen Umkehr?
Wir anerkennen den Wert pflegender Berufe, der Familienpflege, der Nachbarschaftshilfe, gesellschaftlicher Solidarität, – und setzen uns ein für mehr regionale Wirtschaftskreisläufe und kurze Lieferketten.
Gottes Geist gibt uns nicht die Antwort auf alle großen Fragen. Gottes Geist gibt uns aber eine Vision von der Fülle des Lebens, die Gott für seine Schöpfung will.
Um diesen Geist bitten wir, besonders heute an Pfingsten.
Amen.

 

Fürbitten

Komm, Heiliger Geist, und schaffe alles neu!
Wir sind in Unruhe.
Komm mit deiner Weisheit.
Viele sind verunsichert.

Komm mit deiner Klarheit.
Die Mächtigen sind uneins.
Komm mit deinem Rat.
Die Kranken sehnen sich nach Heil.

Komm mit deiner Stärke.
Die Wissenschaftler und Forscherinnen mühen sich.
Komm und schenke ihnen Erkenntnis.
Die Traurigen verlieren den Mut.

Komm mit deinem Trost.
Deine Gemeinde sehnt sich danach,
zu singen und gemeinsam aufzuatmen.
Komm und berühre deine Menschen.
Brich mit uns zusammen auf.

Geh mit uns hinaus ins Weite
und heile uns.
Komm, wir warten!
Komm, Heiliger Geist, und schaffe alles neu!

 

 

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