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Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020

Pfarrer Karl-Eugen Fischer

Wochenspruch: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Lk 19,10

Wochenpsalm: EG 742 Psalm 103,1-13
Lobe den Herrn, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:
der dir alle deine Sünde vergibt
und heilet alle deine Gebrechen,
der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit,
der deinen Mund fröhlich macht
und du wieder jung wirst wie ein Adler.
Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht
allen, die Unrecht leiden.
Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.
Barmherzig und gnädig ist der Herr,
geduldig und von großer Güte.
Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben.
Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
So fern der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsre Übertretungen von uns sein.
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.

Predigt über Micha 7,18-20

Liebe Gemeinde,
zu jedem Gottesdienst laden wir Gäste aus anderen Zeiten und Kulturen ein. Menschen sprechen zu uns, die aus anderen Kulturkreisen kommen und vor nicht weniger als 1900 Jahren gelebt haben. Bei den ältesten sind es fast 3000 Jahre. Und keiner davon spricht „deutsch“.
Wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir uns also auf sie einlassen.
Sie verlangen Aufmerksamkeit und Respekt, Empathie und Zeit, Geduld und langen Atem. Vieles verstehen wir nicht.

Manche wenden sich dann ab. Wir bleiben dran und bemühen uns, den Kontakt dennoch nicht abreißen zu lassen. Bei der Beschäftigung mit biblischen Texten denke ich oft an Begegnungen mit Geflüchteten. Was für sie gilt, gilt auch für meinen Umgang mit biblischen Texten. In der Bibel habe ich es mit Lebens- und Glaubenszeugnisse aus einer anderen Welt zu tun, die den Geflüchteten näher ist als mir. Durch die Zeiten hindurch sind ihre Worte geschliffen worden, zu Bildern verdichtet, eine Poesie, deren Bedeutung nur wahrnehmbar ist für Menschen, die ihnen Zeit, Geduld, Aufmerksamkeit und Respekt schenken.

Die Bibel ist über weite Strecken ein Buch der Flucht. Und was sie von allen anderen religiösen Schriften unterscheidet, ist dass sie in unzähligen Variationen eine grundlegende Gottes-Erfahrung widerspiegelt: Gott ist Liebe. Inmitten einer Welt von Feindseligkeit und Gewalt.
Das beginnt schon mit den Schöpfungserzählungen:
Nicht der Krieg ist in der Bibel der „Vater aller Dinge“ (wie in den meisten anderen großen Schöpfungsmythen), sondern die Liebe, die das Wort und die Weisheit:
Gott erschafft die Welt aus Liebe. Der Mensch kommt Gott nah mit der Fähigkeit Gut und Böse zu unterscheiden – und hat damit die Qual der Wahl.

Seine Antwort auf Gottes Liebe ist Misstrauen.
Und Gott lernt, dass nicht Strafe daran etwas ändert sondern Vergebung. Gott weiß: Der Mensch ist mehr als das, was er tut oder sagt.
Als Liebe lässt Gott ihren Zorn wohl fahren über das, was Menschen einander und der Schöpfung antun. Kriege und Katastrophen werden deshalb oft als Gottes Strafe erlebt. Aber das ist es eben nicht. Genau besehen sind sie die Folgen menschlichen Fehlverhaltens.
Genau hinschauen! Das tun die Propheten. Sie sehen Gottes Zorn als Ausdruck von Gottes Liebe. Dennoch ist Vergebung ihre Antwort auf menschliche Schuld. Und eben nicht die Strafe. Gott ist anders. Das ist für den vergeltungs- und rachsüchtigen Menschen schwer zu verstehen.
Was ist das für ein Gott?, fragt Micha im Predigttext für diesen Sonntag, und kommt direkt ins Schwärmen.

Micha 7,18-20:
18 Wo ist solch ein Gott wie Du?
Der die Sünde vergibt
und denen die Schuld nicht anheftet,
die von seinem Volk übriggeblieben sind,
der an seinem Zorn nicht ewig festhält,
weil er Gefallen hat an Gnade!
19 Er wird sich unser wieder erbarmen,
unsere Schuld unter die Füße treten
und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.
20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen,
wie Du unseren Vätern vorzeiten geschworen hast.

Der Prophet Micha lebte wie Jesaja, Amos und Hosea im 8.Jahrhundert vor Christus. Das war ein politisch höchst brisantes Jahrhundert im heute sog. „Nahen Osten“.
Diese Region war immer umkämpft weil sie für die damalige Weltwirtschaft von großer Bedeutung war. Die umliegenden Großmächte versuchten dort ihre Interessen durchzusetzen, ob sie nun Ägypten, Assur, Babylon, Persien, Griechenland oder Rom hießen.
Bis heute greifen Weltmächte in die Geschicke dieser Region ein und machen sie zu einem Brennpunkt, auf den die ganze Welt schaut.
Zur Zeit Micha erlebt Juda einen wirtschaflichen Aufschwung. Aber schon damals sah das so aus dass davon vor allem die Wohlhabenden profitierten. Gab es Dürren und Missernten fielen viele in den Staub und kamen nicht mehr hoch. Das Vermögen unverschämt Reicher stieg allerdings unaufhörlich. Dürren waren wie ein Börsenfeuerwerk für sie. Neue Schuldsklaven kamen dann auf dem Markt und Land war zum Spottpreis zu haben.
Eigentlich wäre für alle genug da gewesen, aber in der Verteilung stimmte nichts mehr.
Das war kein Naturereignis. Das war Politik. Machtpolitik. Thron und Altar arbeiteten eng zusammen. Die Könige kauften Priester und Propheten indem sie ihnen im Tempel gute Geschäfte zusicherten.
Sie sollten dem Unrecht religiöse Weihen geben.
Dagegen traten Propheten wie Micha aus dem Volk auf und verkünden Gottes heilige Zorn.
„Das darf doch nicht wahr sein.“
Der Prophet sieht die Wirklichkeit und prüft sie an der Wahrheit.
Er prüft sie an Gottes Wort, an Gottes Liebe und an Gottes Weisheit.

Es darf nicht wahr sein, dass der eine vor Hunger krepiert und der andere wegen Völlerei zum Arzt muss.
Es darf nicht wahr sein, dass die eine nicht weiß, wie sie ihr Kind anziehen soll
und die andere ihren Kleinen mit Brillanten behängt.
Es darf nicht doch nicht wahr sein, dass Reichtum das Recht beugt,
Korruption die Wirtschaft bestimmt
und Priester das Ganze auch noch absegnen.

Der Zorn Gottes spricht durch den Micha
Er prangert das Unrecht an, besonders weil es sich die Gestalt des Rechtes gegeben hat. Er protestiert, warnt, brennt. Es tut ihm in der Seele weh, wie die Würde der Menschen mit Füßen getreten wird, sein Recht missachtet, seine Liebe missbraucht wird. Gottes Schöpfung wird zu Privatbesitz gemacht, die Erde, die er allen zum Leben gibt, wird unter wenigen aufgeteilt. Sie wird nicht als lebendiges Geschöpf wahrgenommen, das Zeit braucht, um sich zu regenerieren und neue Kraft zu schöpfen. Nein – Mutter Erde wird ausgepresst wie eine Zitrone, die man dann achtlos wegwirft.
Heiliger Zorn überkommt den Propheten. Was ihn vom Hof-Propheten, aber auch vom Hassprediger unterscheidet, ist, das er Welt mit Gottes Augen sieht – und leidet.
Er sieht die Welt, wie sie ist, und er sieht wie sie sein sollte, wie sie sein könnte. Er sieht die Welt mit den Augen der Liebe und gerät in Zorn.
Die Liebe ist es, die ihn zornig werden lässt über das Unrecht.
Die Liebe kann diese Welt nicht einfach laufen lassen. Sie ist keine gleichgültige Göttin. Sie sehnt sich nach uns. Sie will nicht allein sein. Sie ist kein „unbewegter Beweger“, kein Uhrwerk, keine Philosophie, sondern eine leidenschaftliche Göttin.

Gott liebt diese Welt! Die Liebe empört sich über das Unrecht und wird zornig wenn der eine der anderen das Wunder des Lebens zur Hölle macht.
Das Gegenteil von Liebe ist nicht der Zorn sondern die Gleichgültigkeit.
Gleichgültigkeit ist die Feindin des Lebens. Sie sagt: „Hauptsache mir geht es gut. Sollen die anderen schauen wo sie bleiben.“
Gott ist anders. Auch im Zorn gibt Gott die Welt nicht auf. Der Zorn Gottes hat eine Richtung: Er will der Liebe und der Gerechtigkeit wieder zum Recht verhelfen.
Darum endet dieses insgesamt sehr zornige Prophetenbuch mit einem wirklich bemerkenswerten Lob Gottes:

Wo ist solch ein Gott wie Du? Der Du die Sünde vergibst und uns die Schuld nicht anheftet, der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn Du hast Gefallen an Gnade! Wo ist überhaupt jemand, der ist wie Gott, dessen Liebe unterscheiden kann zwischen Sünde und Sünder. Ein Gott, der die Sünde vergibt und den Sünder liebt. Dessen Zorn eine Grenze hat, weil er immer im Dienst der Liebe bleibt. Eine Liebe aber, die den Zorn fahren lässt, die nicht harmlos und wirkungslos, wehrlos und am Ende gleichgültig wird und sich verliert.
Nein, Gott hält uns und seine Welt im Spiel – aus keinem anderen Grund als aus Liebe. Heute würden wir das Beziehungsarbeit nennen – manchmal mit Zorn, in jedem Fall mit langem Atem, schon seit der Zeit Abrahams und Sarahs, Jakobs und Rahels.

Damit uns die Schuld nicht in den Kopf steigt oder über den Kopf wächst, hält Gott sie aus.
Die Sünde, das was uns von Gott und uns selbst entfremdet, die Gleichgültigkeit, wirft Gott ins äußerste Meer.
Heute sterben dort Menschen zu tausenden auf der Flucht weil die Reichen Länder wegschauen, weil zu viele gleichgültig gegenüber dem Unrecht sind, das sie zur Flucht zwingt. Weil zu wenige Prophetinnen und Propheten aufstehen und den Zorn Gottes über das Unrecht verkünden. Die Evangelische Kirche Deutschlands muss in diesem Zusammenhang ausdrücklich gelobt werden. Aus Spendengeldern wurde im Rahmen der Aktion „United4rescue“ ein Schiff, die „Sea Watch 4, gekauft, für die Seenotrettung umgebaut und ins äußerste Meer geschickt, damit die Sünde gerade dort nicht mehr ihr Unwesen treiben kann, sondern um Gottes rettende Liebe sichtbar zu machen und ganz konkret Menschen vor dem Ertrinken zu retten.
Nehmen wir das als ermutigendes Zeichen, lasst uns zu Prophetinnen und Propheten werden. Lasst uns aufeinander achten und nicht gleichgültig werden. Lasst uns auch zornig werden über das Unrecht, damit eine streitbare, aufrechte Liebe, die Quelle des Lebens, sich durchsetzt.

EG 272, Ich lobe meinen Gott (3x)

Fürbitten:
Gott, du bist die Liebe
Lobe unseren Gott meine Seele,
lobe die Liebe
Gutes tust du,
Ursprung und Ziel,
Quelle und Weg.

Gutes hast du uns getan
 und wir vertrauen darauf, 
dass du deiner Welt treu bleibst.

Wir bitten dich:
Erbarme dich.

Lobe unseren Gott meine Seele,
lobe die Liebe 
die dir alle deine Sünde vergibt.
 Vergib allen,
 die in Unrecht und Gewalt verstrickt sind.
 Vergib denen,
 die sich durch Lüge und Betrug bereichern.
 Vergib denen,
 die auf Kosten Anderer leben.
 Vergib uns,
damit wir zu dir umkehren.
 Vergib allen und bekehre sie zum Leben,
 damit diese Welt endlich wieder aufatmet.

Wir bitten dich:
Erbarme dich.

Lobe unseren Gott, meine Seele,
lobe die Liebe 
die heilt alle Gebrechen, 
die unser Leben vom Verderben erlöst.
 Heile uns und vertreibe unsere Angst.
 Heile die Kranken, 
gib deine heilenden Kräfte denen,
 die sich um die Erkrankten mühen.
 Gib deinen heilenden Geist allen,
 die sich um die Verwirrten, Verzweifelten und Ratlosen mühen.

Lege deinen heilsamen Trost in die Seelen der Trauernden.
wir trauern heute besonders um:
Maria Magdalena Hähnlein, 95 Jahren.
sie wurde letzten Donnerstag bestattet.
Fabio Litto 16 Jahre. Die Beerdigung ist morgen, 29. Juni um 12 Uhr auf dem Friedhof Feuerbach.
Ilse Altmann im Alter, 88 Jahren, die Trauerfeier ist am 3. Juli auf dem Dornhaldenfriedhof statt
Udo Erich Scheuer, 87 Jahre. Die Trauerfeier findet am 3. Juli am 14 Uhr auf dem Pragfriedhof statt

hilf uns teilnehmen an der Trauer der Hinterbliebenen
und den Schmerz gemeinsam tragen.
hilf uns, füreinander da zu sein, so lange es Tag ist,
lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
damit wir bewusster und achtsamer leben.
Erlöse uns von dem,
was Zerstörung und Tod bringt.
Durchdringe unser Leben und die ganze Welt,
 damit heil wird, was zerbrochen ist.
Wir bitten dich:
Erbarme dich.

Lobe unseren Gott, meine Seele,
lobe die Liebe 
die unseren Mund fröhlich macht.
 Lobe unseren Gott, meine Seele,
lobe die Liebe, die uns singen lässt. 
Lege uns deine Worte in den Mund,
damit die Welt sie hört.
 Lege sie deiner ganze Kirche in den Mund,
 damit sie glaubwürdig ist,
 damit sie dir und der Welt treu ist,
 und dich mit ihrem Leben und Handeln bezeugt.
 Wir bitten dich:
 Erbarme dich.

Lobe unseren Gott, meine Seele,
lobe die Liebe 
und was in mir ist, ihren heiligen Namen.
 Ja, so loben wir dich 
und vertrauen uns dir,
 an wenn wir jetzt gemeinsam weiter beten:
Vater unser …

EG 171, 1-3 Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 21. Juni 2020

 Pfarrerin Dr. Birgit Rommel

Wochenspruch:“Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“  Mt 11,2

Predigt zu Mt 11,25-30

Liebe Gemeinde!
I
An Tagen wie diesen.
Wünscht man sich, dass alles bald vorbei ist. Dass die Zeit schnell vergeht.
An diesen Tagen geht einem alles auf die Nerven. Da kommt nichts richtig an.
Ich habe alles getan. Ich habe alles gesagt. Und dann haben sie doch nichts verstanden!

An einem solchen Tag „Es war zu dieser Zeit“ (Mt 11,25 BIGS 2011), da hat Jesus wirklich alles genervt.
Wieso verstehen die Leute nichts, obwohl er doch alles ganz genau erklärt hat?
Warum hören sie nicht Gottes Wort, obwohl er’s ihnen doch auslegt?
Warum haben seine Heilungen und Wunder so geringe Wirkung?
Wieso fragt sein Vetter Johannes, der ihn doch kennt, ob er wirklich der Richtige ist? „Bist du es, der kommen soll? Oder müssen wir auf jemand anderen warten?“ (Mt 11,3 BigS 2011)

Blöde Frage.
Hat er vielleicht gedacht, sagt es aber nicht.
Jesus versteht: Der da fragt, Johannes der Täufer, sitzt im Gefängnis. Er ist vom Leben abgeschnitten und kann mit seinem Tod rechnen. Jesus versteht die Frage von Johannes, der seine Lebensbilanz zieht: Habe ich alles richtig gemacht? Gibt es meinen angekündigten Nachfolger? „Bist du es, der kommen soll? Oder müssen wir auf jemand anderen warten?“ (Mt 11,3 BigS 2011)
„Ja, bin ich, Vetter Johannes.“ „Geht und erzählt Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Gelähmte gehen umher, Leprakranke werden rein und taube Menschen können hören. Tote werden aufgeweckt und die Armen bringen die Freudenbotschaft. Glücklich ist, wer nicht meinetwegen Gott untreu wird.“ (Mt 11,4-6 BigS 2011)

Jesus ärgert sich. Über die, die sich über ihn ärgern.
Manchmal kann das, was man sagt und tut, so sinnlos sein. Denn alle können es zwar sehen, aber die meisten verstehen es nicht.

Wenn er genau nachdenkt: Johannes, den sie Täufer nennen, ist es auch so gegangen. Der hat sich abgerackert, nur für Gott gelebt, auf allen Komfort verzichtet und ist ein wirklicher Prophet. Der sitzt aus königlicher Willkür im Gefängnis. Wird das vielleicht nicht überleben. Über den sagen die anderen: „Er ist von einem Dämon besessen.“ (Mt 11,18 BigS 2011)
Und über Jesus selbst, der doch ebenfalls Gottes Willen tut, der genießt, was Gott schenkt: „Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! (Mt 11,19 Luther 2017)

Warum sagen die einen so und die anderen so und das eigene Glaubensleben und –tun überzeugt nicht und es geht nicht weiter?
Jesus steigert sich richtig in seinen Ärger herein. So beschreibt es das Matthäusevangelium im 11. Kapitel. Jesus beschimpft die Menschen und die Städte, in denen er tätig war. Auch da ist trotz aller Wunder und Heilungen nichts passiert. Mit solchen Leuten möchte er am liebsten gar nichts mehr zu tun haben. Manchmal findet man einfach keine Anerkennung.

Und dann…
Er weiß doch wie sie sind. Warum ärgert er sich eigentlich und verschwendet seine Kraft? Ja, seine Kraft. Die kommt von Gott. Und plötzlich richtet er sich an Gott. Gibt Antwort auf ein ungehörtes Wort.
Und beginnt zu singen. Ein Loblied. Zu dieser Zeit. An Tagen wie diesen.

Ich lese noch einmal unseren heutigen Predigttext, diesmal in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache (BigS).
Mt 11, 25 Es war zu dieser Zeit, dass Jesus Gott antwortete und bekannte: „Ich singe dir Loblieder, Gott, Vater und Mutter für mich und mächtig im Himmel und auf der Erde! Ich singe davon, dass du das vor den Weisen und Gebildeten verborgen und es für die einfachen Menschen aufgedeckt hast. 26Ja, mein Gott, denn so hast du es gewollt.
27Du hast mir alles mitgeteilt. Niemand kennt mich als dein Kind so wie du, väterlich und mütterlich. Niemand kennt dich so väterlich und mütterlich wie ich als dein Kind, und wie alle Geschwister, die ich darüber aufkläre.
28So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen. 29Nehmt meine Last auf euch und lernt von mir: Ich brauche keine Gewalt, und mein Herz ist nicht auf Herrschaft aus. So werdet ihr für euer Leben Ruhe finden. 30Denn meine Weisungen unterdrücken nicht, und meine Last ist leicht.“

II
Dieser Abschnitt, unser heutiger Predigttext, schließt den ersten Hauptteil des Matthäusevangeliums ab. Jesu Botschaft ist in die Welt gebracht: Gott wendet sich den Armen und Schwachen zu. Die Jünger sind berufen und ausgesandt. Jesu Selbstvorstellung „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“ (Mt 11,5f) macht deutlich: An ihm scheiden sich die Geister.

So viele sind Jesu Ruf zur Buße nicht gefolgt. Viele erkennen ihn nicht als den Messias an. Doch Jesus stellt seinem empirischen Misserfolg die Erwählungstat Gottes entgegen: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart.“ / „Ich singe dir Loblieder, Gott, Vater und Mutter für mich und mächtig im Himmel und auf der Erde! Ich singe davon, dass du das vor den Weisen und Gebildeten verborgen und es für die einfachen Menschen aufgedeckt hast.“ Darum beginnt unser Predigttext mit einem Dank – Dank, dass Gott sich den einfachen Menschen zu erkennen gibt.
Wem gilt der Ruf?
Alle sind gerufen! Dahinter steht kein Antiintellektualismus; aber die Einsicht: Gottes Offenbarung (hier sehr unbestimmt „dies“: dass Jesu Botschaft von Gott kommt, „alles von Gott übergeben“ ist) gilt auch den einfachen Leuten, die keiner religiösen Elite angehören. Wissen und Verstand sind nicht per se abzulehnen, aber sie sind keine notwendige Voraussetzung für den Empfang göttlicher Offenbarung.
Dieser Ruf der Weisheit an die Ungebildeten und die Unverständigen hat eine lange Tradition in weisheitlichen Texten wie Sprüche Salomos und Jesus Sirach, aber auch in den Psalmen. Dieser Ruf der Weisheit zielt nicht auf Wissen, sondern auf Erkennen – das schließt eine persönliche Beziehung zu Gott ein.

So heißt es in der Weisheit Salomos: Die Weisheit ist „der Widerschein des ewigen Lichts und der fleckenlose Spiegel der göttlichen Wirklichkeit wie auch das Ebenbild seiner Güte. Sie ist eins und vermag doch alles. Sie beharrt in sich selbst und erneuert doch alles, und in jeder Generation siedelt sie in fromme Seelen über und rüstet Gottesfreunde und Propheten aus. Denn Gott liebt niemanden außer dem, der mit der Weisheit zusammenwohnt.“ (SapSal 7,26-28)

Und in JesSir 24,19-22 heißt es: „Kommt her zu mir, die ihr mich begehrt, und an meinen Früchten sättigt euch! Denn der Gedanke an mich geht über süßen Honig, und das, was ich zu Besitz gebe, geht über Honigwaben. Die, die mich essen, wird noch mehr hungern, und die, die mich trinken, wird noch mehr dürsten. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden werden, und die, die ihr Werk in mir verrichten, werden nicht sündigen.“ Das klingt doch schon fast wie unser Predigttext aus dem Matthäus-Evangelium!

Und auch auf JesSir 51,23.26f.31-35 spielt Matthäus an:
„Darum will ich den rühmen, der mir Weisheit gab. … Ich hob meine Hände auf zum Himmel und sann über ihre Geheimnisse nach. …
Kommt her zu mir, ihr Ungebildeten, und wohnt im Haus der Bildung! Warum wollt ihr noch warten und eure Seelen dürsten lassen? Ich habe meinen Mund aufgetan und gesprochen: Kauft euch Weisheit – ganz ohne Geld! Beugt euren Nacken unter ihr Joch und nehmt ihre Erziehung an. Sie ist nahe und leicht zu finden. Seht mich an: Ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden.
(Nehmt Bildung an, die wertvoll ist wie Silber, und gewinnt Gold durch sie. Freut euch an der Barmherzigkeit Gottes und schämt euch nicht, ihn zu loben. Tut euer Werk zur rechten Zeit, so wird er euch belohnen zu seiner Zeit.)“

Wer aber ist es, der bei Matthäus ruft?
Für Matthäus ruft also Jesus an Stelle der Weisheit (AT: Identifikation Tora – Weisheit; Mt: Identifikation Weisheit – Jesus). Für Matthäus ist der Zugang zum Vater/Gott durch den Sohn/Jesus kanalisiert: Als Sohn Gottes ist Jesus der, der Zugang zur übernatürlichen Welt hat und Offenbarung Gottes vermitteln kann. Das macht Jesus, die personifizierte Weisheit, glaubwürdig. Analog zu der Weisheit nimmt Jesus die Menschen mit hinein in das besondere Verhältnis zum Vater. Jesus verkörpert die Zusage Gottes „Ich bin da“. Er nimmt die, an die er sich wendet, mit hinein. Das schafft eine Grundbeziehung zwischen Gott und Mensch, die wir auch Glaube oder Vertrauen nennen.

Wer wird gerufen?
Vielen kommt sofort der heutige Wochenspruch in der Lutherübersetzung in den Sinn: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28) Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – ich empfinde dann Unbehagen. Will ich mich als mühselig und beladen definieren lassen? Und – will ich wirklich mühselige und beladene Menschen mit dabei haben? „Wer Probleme hat, macht Probleme“ – so fasste ein früherer Berufsschulkollege knapp seine Einschätzung einer Bäckerklasse zusammen. „Wer Probleme hat, macht Probleme“: Mühselige und beladene Menschen sind oft anstrengend.

Luthers Übersetzung „Mühselige“ allerdings führt in die Irre – gemeint sind Menschen, die sich in körperlich und geistiger Arbeit mühen. Jesu Aufruf an alle, die sich abmühen und belastet sind, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass Jesu Botschaft zuerst an ganz Israel gerichtet ist. Konkret an die, die sich in körperlicher und geistiger Arbeit mühen um ein Leben im Einklang mit Gott.
Allen – und besonders den Sanftmütigen, Trauernden (vgl. Seligpreisungen) – gilt dieser Ruf:
„So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen.“ (Mt 11,18 BigS 2011)
An Tagen wie diesen. „Zu dieser Zeit.“ (Mt 11,25 BigS 2011)

Und da bin ich dann gerne mit dabei:
Ausruhen. Erfrischen. Das wäre schön.
Wer das kann, lässt die Sorgen, das Mühen, die Last los.
Wendet sich von sich selbst, seiner eigenen Mühe und Beladenheit ab.
Ist frei!
Kann sich Jesus und Gott zuwenden. Wird wieder beweglich.
Kann auf andere sehen, statt nur auf sich selbst.
Kann auf Gott sehen und in seinem Sinne für andere da sein.
Da bin ich mit dabei.

Aber dann kommt die Einschränkung: „Nehmt meine Last auf euch und lernt von mir.“ (Mt 11,29 BigS 2011)
Drei Imperative, drei Aufforderungen hintereinander: kommt – nehmt – lernt!
Eine neue Last? Eine andere.

Wozu werden wir gerufen?
Wer das Matthäusevangelium ernst nimmt, weiß: Jesus ruft zur Erfüllung der Gebote auf (Mt 5, 18f). Jesus beklagt hier also nicht die Fülle der jüdischen Gebote, die den Menschen das Leben schwer mache.
Jesus bejaht vielmehr das Joch der Tora in seiner Auslegung, denn das „Joch der Tora“ ist ein Gegensatz zum „Joch der weltlichen Herrschaft“ bzw. zum „Joch der weltlichen Sorgen“ ein sanftes Joch: „Jedem, der das Joch der Tora auf sich nimmt, dem nimmt man das Joch des Königtums (der Regierung) und das Joch der weltlichen Sorgen; jedem, der sich vom Joch der Tora löst, der muss das Joch des Königtums und der weltlichen Sorgen tragen.“ (jüdische Tradition)
Das Joch der Tora, das Joch Jesu befreit also von weltlichen Sorgen; und die sind eindeutig „das größere Übel“.
Was ist heute das schwere Joch der weltlichen Sorgen?
Ansprüche anderer an mich: Ausbeutung durch 14-Stunden-Schichten und Überlastung durch Beruf, Haushalt und Pflege, durch Beruf, Leben, Klimawandel, großer und kleiner Politik, Familie, Freunden.
Das schwere Joch der weltlichen Sorgen, das sind aber auch die eigenen Ansprüche an mich selbst: Ich muss doch. Ich muss doch mein Leben planen: Termine setzen und einhalten, zuverlässig sein, vorbereitet sein. Ich muss doch organisieren, durchhalten, aushalten, tragen und ertragen. Wir wissen es: Selbstoptimierung, innere und äußere Antreiber machen nicht glücklich.
(Auch religiöse Antreiber nicht. Die Annahme, dass ich Dinge glauben soll, die ich nicht glauben kann, kann Leiden verursachen.)

Ansprüche von außen und von innen machen das Leben schwer. Allerdings: Ich lebe nicht allein auf der Welt, und das ist gut so. Ich lebe mit anderen, und das bedeutet, dass ich mein Leben mit dem der anderen verknüpfen muss. Und dafür gibt Jesus eine Richtung vor: keine Gewalt, keine Herrschaft.
„Ich brauche keine Gewalt, und mein Herz ist nicht auf Herrschaft aus. So werdet ihr für euer Leben Ruhe finden. Denn meine Weisungen unterdrücken nicht, und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,29-30 BigS 2011)

Es bleibt dabei: Jesu Ruf gilt allen. Auch die Mühseligen und Beladenen werden zum Tun, das der Lehre folgt, aufgerufen. Das Bild vom Joch (wie Luther übersetzt) und die Rede von der Last (wie es in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache heißt) beschönigen nichts. Ein Joch ist unbequem zu tragen, es scheuert und ist lästig. Bleibt man in dem Bild, hat es jedoch immer etwa mit einer tätigen Verrichtung zu tun. Zwar ist das Joch Jesu sanft und seine Last ist leicht, sie wird uns jedoch nicht abgenommen. Hier ist nicht davon die Rede, dass Jesus unser Joch übernimmt. Ein gutes Zusammenleben, eine gerechte Gesellschaft, der Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse bleibt unsere Aufgabe. Da ist etwas zu tun.

Es geht um eine Aufforderung zum Tun – aber ohne Überforderung. Erquickt werden (Luther), Ruhe finden (BigS), aufatmen heißt nicht: Nichtstun – sondern eine Umwandlung des „du musst“ in ein „du kannst“. Erquickt werden, Ruhe finden heißt: Seelenfrieden durch die Rückkehr auf den von Gott vorgegebenen Weg. Die Ruhe für die Seele erwächst aus dem Gewinn einer klaren Lebensorientierung.

(Vielleicht ist das überhaupt eine der großen Corona-Fragen an uns als Kirche. Wir haben ja eine große Kränkung erlebt, als wir als „nicht systemrelevant“ eingestuft wurden. Aber – für welches System wollen wir relevant sein? Ich meine, wer auf diese Frage seine Antwort geben kann, hat eine klare Lebensorientierung. Und ich meine, die Suche nach Antworten lohnt.)

Jesus hat uns gezeigt, wie es zugeht in Gottes Welt – im Himmelreich, in der Gottesherrschaft, also wenn Gott mitten unter uns ist. Er hat Gleichnisse erzählt und Zeichen gewirkt und ging zu den Armen und Außenseitern. „Er starb wie er lebte und er lebte wie er starb: mit ausgebreiteten Armen.“ (Zenetti)

Und wir? Jesu Joch auf sich nehmen meint, in dieser Spur Jesu unterwegs zu sein und auf diese Weise von ihm zu lernen. In Sanftmut und Demut. Mit offenen Armen. Damit der Himmel auf die Erde kommt.
An Tagen wie diesen.
Amen.

„Gegen den Wind will ich rennen …“

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 14. Juni 2020

Prädikant Dr. Bijan Kouros

Wochenspruch: „Wer eich hört, der hört mich. wer euch verachtet, der verachtet mich.“ Lk 10,16

Predigt

Liebe Gemeinde,
es gibt einige Redewendungen in unserem heutigen Sprachgebrauch, die der Bibel entnommen sind. Zu den bekanntesten gehören wohl neben „jemanden zum Sündenbock machen“ oder „über den Jordan gehen“ auch „ein Herz und eine Seele.“ Damit wird große Einmütigkeit zwischen Menschen zum Ausdruck gebracht. So wird auch in unserem Predigttext das Verhältnis der Mitglieder in der Jerusalemer Urgemeinde beschrieben. Ich lese aus dem vierten Kapitel der Apostelgeschichte:

Predigttext: Apostelgeschichte 4,32-37

32 Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. 33 Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen. 34 Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte 35 und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte. 36 Josef aber, der von den Aposteln Barnabas genannt wurde – das heißt übersetzt: Sohn des Trostes –, ein Levit, aus Zypern gebürtig, 37 der hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.

Ist das nicht eine ideale Vorstellung von einer christlichen Gemeinde? Was sie haben, besitzen sie gemeinsam. Niemand leidet Not. Die Wohlhabenderen verkaufen ihre Häuser oder Äcker und der Erlös gehört der ganzen Gemeinde. Von einem solchen harmonischen Zusammenhalt können wir nur träumen. Man muss aber ein wenig Wasser in diesen phantastischen Wein gießen. Denn so viel Harmonie und Eintracht, wie Lukas hier berichtet, herrschte wohl in der Urgemeinde nicht.
Lukas schrieb etwa ein halbes Jahrhundert später das auf, was er von anderen gehört hatte. Wenn wir dagegen die Briefe des Paulus lesen, die Jahrzehnte vor dem Lukasevangelium geschrieben wurden, dann stellen wir fest, dass es schon sehr früh handfeste Konflikte in der Urgemeinde gab und der Grundsatz der völligen Gleichheit aller Mitglieder in Frage gestellt wurde. Beispielhaft möchte ich kurz eine derartige Konfliktsituation schildern. Was war passiert?
Zu der Jerusalemer Urgemeinde gehörten neben den Juden, die den christlichen Glauben angenommen hatten, auch Nichtjuden, die Paulus auf seinen Missionsreisen getauft hatte. Teile der Urgemeinde forderten nun, dass diese Heidenchristen zuerst Juden werden müssten, bevor sie Christen werden könnten, was zur Folge gehabt hätte, dass die Heidenchristen sich beschneiden lassen und an jüdische Reinheitsvorschriften halten müssten.
Paulus aber war der Auffassung, dass Jude zu sein, keine Voraussetzung sei, um Christ werden zu können. Während in der Apostelgeschichte berichtet wird, dass man sich harmonisch auf einen Kompromiss geeinigt habe, d.h. Beschneidung nein, aber Beachtung gewisser jüdischer Reinheitsvorschriften, hört sich das im zweiten Kapitel des Paulusbriefes an die Galater ganz anders an. Paulus berichtet, dass „falsche Brüder“ in Jerusalem sich in die Gemeinde „eingeschlichen hätten“, denen er sich aber nicht „unterworfen“ habe. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass es sich um eine harte Auseinandersetzung gehandelt haben muss.
Lukas scheint romantisierend ein regelrechtes Idyll zu malen. Trotzdem hat seine Schilderung einen wahren Kern. In wenigen Sätzen vermittelt er uns einen Eindruck davon, wie die ersten Christen nach dem begeisternden Pfingsterlebnis, von dem Lukas wenige Kapitel zuvor berichtet, ihren Weg gingen. Das deutsche Wort Begeisterung beinhaltet im ursprünglichen Sinn das Ergriffenwerden vom Geist Gottes. Es war der Geist Gottes, der Menschen aus unterschiedlicher sozialer, kultureller und ethnischer Herkunft zusammenhielt.
Liebe Gemeinde, sicher verläuft unser heutiges Leben ganz anders. Wir sind aber im Grunde nicht sehr viel anders als die ersten Christen. Einheit darf man nicht mit der Einheitlichkeit und Uniformität verwechseln. Gemeint ist vielmehr für-einander-einstehen, Gemeinsinn. Dafür steht in unserem Sprachgebrauch das Wort Solidarität. Wer will leugnen, dass es noch zu viele Egoisten und Ignoranten in unserer Gesellschaft gibt. Auch ist es zu beklagen, dass es weltweit an gerechter Teilhabe an den Lebensgütern mangelt.
Die Corona-Krise zeigt aber, dass wir dennoch solidarisch miteinander umgehen können. Einheit bedeutet, dass man die anderen im Blick behält, vor allem diejenigen, die Zuwendung brauchen. So verstandene Einheit pflegen z.B. Menschen, die sich spontan entschließen, für hilflose alte Menschen, die ans Haus gebunden sind, die Einkäufe zu erledigen, oder anderen, die in Quarantäne leben müssen, am Telefon geduldig zuzuhören.
Es geht nicht darum, dass wir ein Herz und eine Seele sind. Vielmehr sind wir durch unser Glaubensbekenntnis an Jesus Christus zu dieser Solidarität verpflichtet, weil darin der Geist Gottes zum Ausdruck kommt. Lukas ruft uns mit der Beschreibung von dem Leben in der Urgemeinde zu: Lasst euch weiterhin vom Heiligen Geist Gottes inspirieren und begeistern, damit die Sache Jesu auch in diesen schwierigen Zeiten weitergeht! Gott selbst gebe uns dazu die Kraft.

Dialogpredigt am Pfingst-Sonntag 31.Mai 2020

Pfarrerin Dr. Birgit Rommel, Pfarrer Karl-Eugen Fischer

Wochenspruch: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.“ Sach 6,4

Predigttext Apostelgeschichte 2, 1-13

1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.
2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen,
4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel.
6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer?
8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?
9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia,
10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen,
11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.
12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.

Predigt

Wenn alles plötzlich Sinn macht … Verstehen wir uns?

BR:
Liebe Gemeinde,
„Das macht doch alles keinen Sinn!“ Oskar schaut unzufrieden, motzig, vielleicht auch verzweifelt; sein Tonfall ist aggressiv. „Das macht doch alles keinen Sinn!“ – das höre ich öfter von meinen Schülerinnen und Schülern, die mit einer Aufgabe oder einer Note nicht einverstanden waren; und zur Zeit höre ichs immer öfter von Menschen, denen die Corona-Kontaktbeschränkungen nicht einleuchten. Dass etwas keinen Sinn macht, das ist dann ein starkes Werturteil, genauer: ein Unwerturteil: Was keinen Sinn macht, muss weg!
Ich halte das für sehr gefährlich.
(Sicher: Ich verstehe, warum viele Menschen durch die Corona-Pandemie unter Druck geraten. Der Sprung eines Virus vom Tier auf den Menschen, die Zoonose, gab es zwar schon immer, aber sie nimmt an Häufigkeit zu – und durch die Globalisierung werden Zoonosen gefährlicher. Dazu kommt, dass wir letztlich kein Wissen um die Ursachen haben, aber die Folgen der Pandemie uns unmittelbar bedrohen – nicht nur mittelbar, wie es die ökologische Krise tut: Wir erleben coronabedingte Absagen – Projekte, die uns am Herzen liegen, werden abgesagt, können nicht nachgeholt werden, müssen betrauert werden -, coronabedingte Kürzungen – Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten werden eingeschränkt oder ganz genommen -, und coronabedingte Zusatz-Aufgaben – Erwerbsarbeit plus Küchenschule plus Wohnzimmerkita, v.a. für die Frauen: Stress pur. Da steigt der psychische Druck, immer alles trotzdem richtig machen zu müssen.

Das macht dann manche zu widerspenstigen Untertanen, die sich als neue, wahre Zivilgesellschaft präsentieren wollen („Aufstandsfolklore“) und schimpfen: „Das macht doch alles keinen Sinn!“.
Bei allem Verständnis, dass Menschen durch die Corona-Pandemie unter Druck geraten: Bestimmte Formen der Sinngebung sind gefährlich. )

Wer jede Irritation durch Unverständliches, jeden Ärger über Unsinniges sofort in ein Gesamtkonzept einbetten kann, diejenigen, für die alles Sinn macht, die immer einen tieferen Sinn erkennen! Das ist doch gerade das Kennzeichen des Fundamentalismus, dass er keine offenen Fragen erträgt – keine Fragen offen lassen muss. Das Versprechen fundamentalistischer Religion lautet doch: „Wir haben die Antwort! Auf alles gibt es eine Antwort! Wer uns folgt, für den macht alles auf einmal Sinn!“
Nein, danke – vieles macht keinen Sinn, und erwachsen glauben, auf den Gott der Bibel vertrauen, heißt für mich: Ich muss und kann Sinnlosigkeit aushalten. „Das macht doch alles keinen Sinn!“ – nicht schön. Aber wahr. Ich stehe für die Skepsis gegen zu viel Sinngebung.
Und du?

KEF:
Corona ist ein Virus. Ein Erreger: Allgemeine Ratlosigkeit, Unverständnis, Unsicherheit, Angst. Es hat etwas von einem schlechten Science Fiction Film. Nur, dass es eben das nicht ist, sondern konkrete Realität. Manche verschließen die Augen davor – wollen es nicht wahrhaben, vermuten einen riesengroßen Schwindel dahinter. Eine Verschwörung. Das macht wirklich keinen Sinn.
Aber dennoch frage ich mich, was sagt mir dieses Virus?
Damit beginne ich schon, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Ich brauche das. Ich frage mich: Hat es dieses Virus gebraucht, damit uns die Augen geöffnet werden? Oder: was wäre, wenn es Corona nicht gegeben hätte?
Wir würden weiterhin nichts gegen den Klimawandel tun. Wir würden weiterhin die Pflegeberufe abwerten. Wir würden das Gesundheitssystem weiter kaputt wirtschaften. Wir würden uns selbst und diese Erde weiter ausbeuten bis wir endgültig ausgebrannt sind. Wir würden weiterhin auf KI und nicht auf menschliche Vernunft setzen. Wir würden weiterhin das Leben dem ungebremsten Wachstum unterordnen. Vor Corona war die Welt alles andere als heil. Das zeigt die Pandemie ganz schonungslos.
Ich kann mich dem nicht entziehen, indem ich sage, das alles macht keinen Sinn. Sinn ist immer Zusammenhang. Das heißt, ich muss mich irgendwie dazu verhalten. Ich kann es nicht ignorieren. Die Auswirkungen von Corona sind vielfältig. Aber ich finde, Eines liegt allem zugrunde: Corona legt den Finger auf die Wunden unserer „Zivilisation“. Es führt uns unsere Irrtümer vor Augen: „Krone der Schöpfung“ zu sein. Wir sind weit davon entfernt. Ein kleines Virus legt unsere Welt lahm. Es zeigt mir: Wenn wir weitermachen wie bisher, können wir sie nur zerstören. Es zeigt mir, was wir verloren haben: Die Ehrfurcht vor dem Leben.
Worte helfen nicht. Einsicht hilft nicht. Guter Wille hilft nicht. Dass Corona überhaupt so zerstörerisch wirkt, hat mit unserem Lebensstil und unserem pharaonischen Starrsinn zu tun. Ich finde Corona ist die Konkretisierung einer ökologischen Krise und insofern hat es für mich schon einen Sinn. Es fordert mich heraus, mein Leben zu überdenken. aber nicht nur mich. Es fordert unsere Gesellschaft heraus, neu zu fragen, worauf kommt es im Leben eigentlich an. Es fordert uns alle heraus, bewusster, langsamer, rücksichtsvoller, achtsamer, genügsamer zu leben. Es ist traurig, aber offensichtlich gilt, dass nur Katastrophen Einsicht und Veränderung bringen.
Die katastrophalen Folgen: Die Toten, die in ihrer Existenz bedrohten Menschen will ich nicht mit irgendeinem Sinn überkleistern. Aber gerade die Toten fordern von uns: Lernt aus der Katastrophe. wiederholt nicht die Fehler, die dazu geführt haben! Corona macht keinen Sinn. Corona ist ein Erreger.

BR:
Dass du Sinn darin findest, wenn Widerfahrnisse mit deinem Leben sinnvoll verknüpfen kannst, das leuchtet mir ein. Das geht mir auch so. Ich überlege dann: „Wenn das jetzt so ist – wie gehe ich damit um? Was könnte aus diesem Schlechten Gutes entstehen? Welches Gute ist im Schlechten versteckt? Wozu nutze ich diese Zeit, diese Krankheit, diese Enttäuschung?“
Wogegen ich mich wehre, das ist eine andere Art von Sinn: Ich meine die Verschwörungsmythen.

(Wir verstehen ja vieles im Alltag nicht und vertrauen auf unsere Experten – zurecht. Erst in Zeiten der Krise hinterfragen wir diese Abhängigkeit von Fachleuten – auf einmal kommen Begriffe wie „Expertokratie“ und „Virologendiktatur“ auf. Unser Unwissen, die Ungewissheit angesichts komplexer Zusammenhänge macht uns unzufrieden, motzig, vielleicht auch verzweifelt. Woher kommt dieses Virus? Warum trifft es uns jetzt? In welchem Zusammenhang steht Corona mit anderen Krisen? Dafür brauchen wir doch eine Antwort! So denken viele.)

Und weil diese großen Fragen nach Antworten schreien, und zwar am liebsten nach Antworten, deren Grundgedanke wir in einem Satz zusammenfassen können, schlägt die Stunde der Verschwörungsmythen. Wer ihnen anhängt, „für den macht plötzlich alles Sinn“. Sie sind ein religiöser Glaube, nur in negativer Form.

(Ein Beispiel für einen antisemitischen Verschwörungsmythos sind die „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Entstanden sind sie um das Jahr 1900 in Russland. Um die wankende zaristische Monarchie von innen zu stabilisieren, schluderte die russische Geheimpolizei Ochrana das Pamphlet zusammen. Das Pamphlet gibt vor, „Wortprotokoll“ eines geheimen zionistischen Rabbinertreffens in Basel wiederzugeben. Das zentrale Motiv der „Protokolle“, so Michael Blume, bestehe in der These, die Juden würden alle unter einer Decke stecken. Alle antimonarchischen, liberalen und wissenschaftlichen Strömungen ginge, so die Schrift, auf eine Verschwörung jüdischer Eliten zurück in der Absicht, die bestehenden Verhältnisse zu untergraben und die Macht an sich zu reißen. Baschar al-Assad ließ Ausgaben der Schrift im Volk verteilen. „Die arabischen Staaten sind durch die Verbreitung der „Protokolle“ bis heute vergiftet, sagt M. Blume.)

Was zeichnet Verschwörungsmythen aus?
Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass
komplexe Ereignisse einfach erklärt werden können REDUKTION
als Ergebnis zielgerichteter Handlungen, INTENTION
die sich bestimmten Personenkreisen zuordnen lassen, KONSPIRATION
denen es gelingt, ihre jeweiligen Einzelinteressen widerspruchsfrei zu koordinieren, die Auswirkungen ihrer Handlungen selbst in hochkomplexen Situationen voll abzuschätzen und dies alles über lange Zeit geheim zu halten. (Kai Funkschmitt, ezw 10/2014, 393)

(Am Beispiel der Protokolle der Weisen von Zion:
Die Juden stecken hinter allem. REDUKTION
Sie wollen die Weltherrschaft; darum. INTENTION
Dazu stecken sie alle unter einer Decke und treffen geheime Verabredungen. KONSPIRATION
Dass ein jüdische kinderreiche Familie aus dem Jemen ganz andere politische und ökonomische Interessen hat als ein schwuler Jude in New York – geschenkt.
Dass auch bei gute Planung und strategischem Geschick sich die Auswirkungen staatlicher Interventionen auf den Finanzmärkten nicht vollständig voraussagen lassen – ebenfalls geschenkt.
Dass auch Verschwörer bestechlich sind und immer einer gegen Geld Geheimnisse verrät – ebenfalls geschenkt.)

(Denn was macht Verschwörungstheorien/-mythen glaubhaft?
Bilder machen das Gesagte glaubhaft: „Ich habe das selbst gesehen, das muss stimmen“
Es werden bereits bekannte Fakten erwähnt: „Das habe ich schon woanders gehört, das muss stimmen.“
Die Tendenz passt ins Weltbild: „Das habe ich schon immer vermutet, denen traue ich alles zu.“)

Verschwörungsmythen bieten Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung. Sie bieten uns eine einheitliche Logik zur Welterklärung an: „Wir werden doch alle von … gesteuert“. Sie benennen Schuldige und bieten eine einfach geordnete Weltsicht („Wieder Mädchen von Flüchtlingen belästigt“). Indem sie ihren Anhängern „Geheimwissen“ zur Verfügung stellen, werten sie diese auf („Was viele nicht wissen, wir wissen es“, „Wir kennen die Wahrheit hinter …“). Persönliche Niederlagen werden durch externe Ursachen erklärbar („krank durch Mobilfunkantennen“). Und vor allem: Unverfügbare Ereignisse werden vermeintlich in den Bereich menschlicher Gestaltung hineingenommen („diese Virenmutation ist von Menschen gemacht“).

Kurz und gut: Verschwörungsmythen sind optimale Sinn-Spender – und gerade deshalb so gefährlich. Und wenn sie an unsere ureigensten Überzeugungen anknüpfen können, dann schenken wir ihnen besonders gern Glauben. Deshalb sind alle religiös gefärbten Sinndeutungen, die sich auf unseren „christlichen Glauben“ berufen, so gefährlich! Manchen Menschen würde ich gerne sagen: Gott steckt nicht hinter Corona! Ihr tut Gott unrecht! Was meinst du?

KEF:
In Biblischen Zeiten wäre die Pandemie als Strafe Gottes bezeichnet worden. Eine Welt, in der irgendetwas ohne göttlichen Willen geschieht war bis in die frühe Neuzeit undenkbar. Man hat damit akzeptiert, dass der Ratschlag Gottes vom Menschen nicht zu ergründen ist. Dennoch hat man Gott das Leid geklagt. Die Klage war die Auflehnung des Menschen gegen Gottes unergründlichen Willen. Der Protest dagegen, dass Gott sein Antlitz abwendet und damit dem Bösen freien Lauf lässt.
Luther sprach von der dem menschlichen Verstehen abgewandten Seite Gottes, dem so genannten „Deus absconditus“. Die Menschen können und sollen sich indessen nur an das halten, was ihnen von Gott offenbart ist: Gottes Gnade in Jesus Christus.
Heute erledigt sich das Problem damit, dass die Existenz Gottes abgelehnt wird. Das ist so einfach wie unbefriedigend.
Wer aber an Gott glaubt und sagt, Corona sei eine Strafe Gottes, macht es sich ebenfalls zu einfach. Es ist nicht nur pädagogisch katastrophal, sondern auch theologisch falsch. Wer so etwas behauptet, erhebt den Anspruch, Gottes Willen zu kennen. Was aber ist Gottes Wille? Die Bibel? Die 10 Gebote? Die Tora? Die Bergpredigt? Die katholischen Morallehre? Das Kirchenrecht? Das Naturrecht?…
Das Gottesbild dahinter zeigt Gott als Richter, der nach Gutsherrenart die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Dass das nicht funktioniert, zeigt die Bibel an vielen Stellen. Das beginnt schon mit der Fluterzählung: Gott bereut! Er hat einen Fehler gemacht! Strafe macht die Menschen nicht besser! Unglück und Katastrophen haben keinen pädagogischen Wert. Sie machen keinen Sinn. Die ganze Bibel ist ein Gespräch über die Frage, warum genau das nicht funktioniert. Es ist eine der zentralen Erkenntnisse der Bibel, dass die Welt so nicht aufgeht. Sie stellt fest: Der Gerechte leidet, während der Frevler triumphiert. Denk nur an Hiob, dem unverschuldet unendliches Leid widerfährt und der dennoch an Gott festhält. Und fragt zurecht: Wie verträgt sich das mit der Gerechtigkeit Gottes?
Eine Antwort, die wir schon im Ersten Testament finden, lautet: Gott geht mit. Gott ist nicht über das Unglück seines Volkes erhaben. Gott sitzt nicht oben im Himmel und hebt oder senkt den Daumen. Oder schaut weg. Nein, Gott geht mit: Ins Exil, in die Wüste, in den Tod. Gott solidarisiert sich mit den Leidenden, lässt sie nicht allein. Gott leidet mit.
Das hieße in unserer Situation: Corona ist nicht Gottes Strafe, sondern Gottes Schrei. Genau wie die Gewalt, das Unrecht und die Zerstörung der Schöpfung zum Himmel schreit. Gott ist bei den Opfern, den Leidenden.Gott ist bei den Kranken, den Sterbenden, den Hungernden, den Verratenen und Verlassenen. Gott ist selbst das Opfer.
Ich bin nicht von Gott gestraft oder verlassen, wenn ich krank bin. Im Gegenteil: Gott ist mir dort am nächsten, wo ich ihn am wenigsten vermute. Das Gefühl von Gott verlassen zu sein ist die erste wirkliche und intensivste Gotteserfahrung überhaupt.
Aber kann es dabei bleiben. Muss ich das so akzeptieren? Ändert das etwas an der Situation. Das Leiden ist ja kein Selbstzweck. Woher kommt die Hoffnung?

BR:
Natürlich denke ich, dass Gott im Spiel ist. Auch in meinem, in unserem Leben. Aber ich glaube nicht, dass er die eine Ursache von allem ist, was mir widerfährt. Ich glaube, dass Gott mich begleitet in allem, was mir widerfährt; dass er an meiner Seite ist und mitleidet, wenn ich krank werde, einen herben Rückschlag im Beruf erleide, ein Mensch viel zu jung stirbt.
Ich halte mich da an Jesus: In ihm war Gott selbst – auch als er am Kreuz ohnmächtig litt. Gott wurde Mensch, damit wir ihn an unserer Seite haben. Er war ohnmächtig, um unseretwillen.
Dieses Wagnis, das ihn das Leben kostete, führte ins Weite. Das feiern wir an Ostern mit Jesu Auferweckung. Daran zu glauben führt auch mich ins Weite: Ich traue Gott zu, dass er Veränderungen nicht erzwingt, wie ein Marionettenspieler eine Marionette führt, sondern dass er mich dazu verlockt – durch seinen Heiligen Geist.

KEF:
Der Glaube als Wagnis, das in die Weite führt. Der Gedanke gefällt mir. Denn damit sind wir bei der Ruach, der Geistkraft Gottes. Im Hebräischen hat Ruach – Geistkraft denselben Wort-Stamm wie Rechem- Gebärmutter . Die Ruach ist die Kraft, die aus der Enge in die Weite führt. Und genau das geschieht an Pfingsten.
Pfingsten motiviert die verängstigen Jünger*innen Jesu zum Wagnis des Weges in die Weite.
Sturmwind und Feuerzungen ergreifen sie und treiben sie aus der Enge ihres Hauses hinaus ins Freie, die Welt, wo Menschen aller Couleur Zeugen ihrer Exstase werden.
Manche fragen sich: Was soll das werden? Und andere denken: Die sind betrunken.
Die meisten aber lassen sich begeistern. Sie fühlen sich verstanden obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Sie sind berührt und ergriffen. Einfache Männer und Frauen zeigen sich als inspirierende Redner*innen. Alle finden sich als Gemeinschaft wieder. Milieuübergreifend.

Nein, hier ist nicht von den Hygiene-Demos die Rede – sondern von Pfingsten.

Aber die menschliche Begeisterung kann auch in einen kollektiven Rausch umschlagen: Denk nur an die Erregung im Berliner Sportpalast 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Goebbels) Gezielte Manipulation von erregten Massen gibt es immer wieder bei politischen oder musikalischen oder religiösen Großveranstaltungen.

Darum ist es gut, die belebende Geistkraft Jesu von der betäubenden Massenbegeisterung zu unterscheiden.

Pfingsten lehrt, die Geister zu unterscheiden.

Der Kirchenvater Augustin hat es vor langer Zeit so ausgedrückt:
„Wenn dir ein Licht aufgeht, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn in dir ein Feuer brennt, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn dir die Ohren brausen vor Glück, sag nicht: Das ist der Heilige Geist.
Wenn dein Gesicht hell wird, damit andere sehen;
Wenn dein Feuer andere wärmt;
Wenn deine Ohren brennen von der guten Nachricht, die andere froh macht;
Dann kannst du sagen: das ist der Heilige Geist.“

Die Antwort von Pfingsten auf Corona 2020 ist nicht: „Das macht doch keinen Sinn“, sondern „Wir verstehen uns!“.
Wir verstehen unsere Verwundbarkeit, Ohnmacht, aber auch unsere Verantwortung – und wir verstehen die der anderen.
Wir begreifen, wie abhängig wir voneinander und von der nichtmenschlichen Schöpfung sind – wir und die anderen.
Wir verständigen uns über unsere Sehnsucht nach Halt, Orientierung, Hoffnung, die Frage nach Gott, nach Sinn – und hören auch die Antworten der anderen.
Wir überlegen, was Gottes Menschwerdung in Jesus Christus, Gottes Mitleiden in und mit seiner Schöpfung für uns bedeuten könnte: Ein Ruf zur gesamtgesellschaftlichen Umkehr?
Wir anerkennen den Wert pflegender Berufe, der Familienpflege, der Nachbarschaftshilfe, gesellschaftlicher Solidarität, – und setzen uns ein für mehr regionale Wirtschaftskreisläufe und kurze Lieferketten.
Gottes Geist gibt uns nicht die Antwort auf alle großen Fragen. Gottes Geist gibt uns aber eine Vision von der Fülle des Lebens, die Gott für seine Schöpfung will.
Um diesen Geist bitten wir, besonders heute an Pfingsten.
Amen.

 

Fürbitten

Komm, Heiliger Geist, und schaffe alles neu!
Wir sind in Unruhe.
Komm mit deiner Weisheit.
Viele sind verunsichert.

Komm mit deiner Klarheit.
Die Mächtigen sind uneins.
Komm mit deinem Rat.
Die Kranken sehnen sich nach Heil.

Komm mit deiner Stärke.
Die Wissenschaftler und Forscherinnen mühen sich.
Komm und schenke ihnen Erkenntnis.
Die Traurigen verlieren den Mut.

Komm mit deinem Trost.
Deine Gemeinde sehnt sich danach,
zu singen und gemeinsam aufzuatmen.
Komm und berühre deine Menschen.
Brich mit uns zusammen auf.

Geh mit uns hinaus ins Weite
und heile uns.
Komm, wir warten!
Komm, Heiliger Geist, und schaffe alles neu!

 

 

 

 

 

 

 

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